Lebt Peggy noch?
Jetzt wendet sich ihre beste Freundin an die Öffentlichkeit. Sie ist überzeugt, dass ein Falscher als Mörder eingesperrt ist !
Den 26. April 2001 wird Sarah K., 21, nie vergessen.Es ist ein Donnerstag, sie ist damals neun Jahre alt, spielt mit ihrer besten Freundin Peggy im Garten des Ferienhauses der Familie im bayerischen Lichtenberg.
Die Mädchen müssen sich voneinander verabschieden, Sarah fährt mit ihrer Familie zurück nach Berlin. Die Sonne scheint, es ist warm, ein schöner Frühlingstag. Die Mädchen haben eine Kinder-Kaffeetafel angerichtet und neben sich auf kleine Gartenstühle ihre Kuscheltiere gesetzt.
Am Nachmittag nimmt Sarah ihre Freundin in den Arm. Es soll ein Abschied für ein paar Wochen sein, nur bis zu den nächsten Ferien.Vergrößern
Nur wenige Monate nach diesem gemeinsamen Foto verschwindet Peggy (Kreis) spurlosDoch Sarah sieht Peggy schon 10 Tage später wieder – im Fernsehen! Die Nachrichtensendungen berichten vom Verschwinden des fröhlichen, blonden Mädchens mit den auffallend blauen Augen.
Sarah erinnert sich: „Als ich Peggys Gesicht im Fernsehen sah, konnte ich es erst gar nicht glauben. Ich habe mir große Sorgen gemacht und angefangen zu weinen.“
In Lichtenberg läuft am selben Tag eine große Suchaktion an.Hunderte Freiwillige, Polizisten, Feuerwehrleute, Hundestaffeln, Taucher suchen in dem 1000-Einwohner-Dorf nach dem Mädchen – nichts! Die „SoKo Peggy“ fahndet monatelang nach dem blonden Mädchen. 4500 Spuren arbeiten die Beamten ab. Auch eine ausgesetzte Belohnung in Höhe von 55 000 Mark bringt keine heiße Spur.
Trotzdem wird im September der 23-jährige Ulvi S. festgenommen. Er ist der Sohn eines türkischen Gastwirtpaares. Er ist geistig behindert, hat einen IQ von 67. Er gilt als gutmütiger Dorftrottel. Doch es wird auch immer wieder über ihn getuschelt: Er soll sich mehrfach kleinen Kindern unsittlich genähert haben. Auch Peggy?Immer wieder wird der junge Mann von Spezialisten verhört, die Protokolle füllen mehr als 900 Seiten. Fast ein Jahr nach seiner Festnahme gesteht er schließlich die Tat. Er habe sich an Peggy vergangen, am Tattag habe er sich bei ihr entschuldigen wollen. Dann sei die Situation eskaliert. Er habe das Mädchen gewürgt, bis es nicht mehr atmete, den Körper will er im Wald versteckt haben.
Doch obwohl die Leiche nie gefunden wird, und Ulvi sein Geständnis später widerruft, wird er am 20. April 2004 vom Landgericht Hof wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt und in die Psychiatrie eingeliefert.
Bis heute bestreitet er die Tat. Inzwischen sitzt er seit mehr als zehn Jahren hinter Gittern – unschuldig? In seiner Heimat hat sich eine Bürgerinitiative für ihn gegründet, die mehr als 1600 Unterstützer zählt.Vergrößern
Ulvi K. im Gerichtssaal
Foto: dpa Picture-AllianceSein Rechtsanwalt Michael Euler aus Frankfurt will jetzt einen 950 Seiten umfassenden Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens beim Landgericht Bayreuth einreichen. Euler: „Die Verurteilung meines Mandanten ist ein Skandal! Belastendes wurde zum Teil konstruiert, Entlastendes ignoriert. Ein geistig Behinderter soll angeblich das perfekte Verbrechen begangen haben. Das ist völlig absurd!“
BILD am SONNTAG liegt der Wiederaufnahmeantrag vor. Er listet formale Fehler und Versäumnisse auf – und die Aussage der besten Freundin:► Im Geständnis beschreibt Ulvi detailliert die angebliche Tat, nennt Ablageort der Leiche und markante Wegmerkmale am Tatort. Doch weder die Leiche noch verwertbare Spuren konnten dort gefunden werden.
► Das Geständnis erreichten die Polizisten mit psychologischem Druck und der falschen Behauptung, sie hätten Blut an Ulvis Jacke gefunden. Eine illegale Vernehmungsmethode.
► Im Gegensatz zu den anderen Verhören wurde sein Geständnis nicht auf Tonband aufgezeichnet.
► Ein psychologischer Gutachter kam zu dem Schluss, dass sich Ulvi sein Geständnis nicht ausgedacht haben könne. Was der Experte nicht wusste: Es gab schon vor der Vernehmung eine polizeiliche „Tathergangshypothese“, die dem späteren Geständnis auffällig gleicht. Ergebnisse anderer Gutachter wurden ignoriert.
► Der Hauptbelastungszeuge Peter H., ein Kleinkrimineller, war von der Polizei zu Ulvi in die Zelle gelegt worden, um ihm ein Geständnis zu entlocken. Angeblich mit Erfolg. Als die Verjährungsfrist ablief, gab er zu, sich das Geständnis auf Drängen der Polizei ausgedacht zu haben, um Hafterleichterungen zu erreichen.
► Mehrere Zeugen, die Peggy unabhängig voneinander noch nach der angeblichen Tatzeit lebend gesehen haben wollen, wurden vom Gericht als unglaubwürdig abgetan.
► Inzwischen gibt es zwei neue Zeugen. Übereinstimmend beschreiben sie, wie Peggy in Lichtenberg in einen roten Mercedes eingestiegen sei – und zwar erst am Nachmittag. Zu dieser Zeit war Peggy nach dem vom Gericht rekonstruierten Tathergang längst tot.
► Nach Auswertungen des Fahrtenschreibers hat ein Mädchen in einem Schulbus Peggy noch um 13.25 Uhr in Lichtenberg gesehen. Ab 14 Uhr hat Ulvi allerdings ein Alibi, er hätte für die Tat und die Beseitigung der Leiche nicht genug Zeit gehabt.
► Die beste Freundin Sarah sagt aus, noch drei oder vier Monate nach der Tat einen Anruf von Peggy bekommen zu haben: „Sie sagte, es gehe ihr gut, aber sie wüsste nicht, wo sie sei. Dann brach das Gespräch abrupt ab.“
Sarah glaubt bis heute, dass Peggy noch am Leben ist. BILD am SONNTAG sagte sie: „Ich bin mir ganz sicher, dass der Ulvi die Peggy nicht ermordet hat.“Auch nach zwölf Jahren hat sie ihre beste Freundin nicht vergessen. „Oft frage ich mich, über was wir heute wohl reden und worüber wir lachen würden.“ Die Hoffnung auf ein Wiedersehen hat sie noch nicht aufgegeben.
Die Staatsanwaltschaft Bayreuth muss entscheiden, ob der Wiederaufnahme stattgegeben wird. Dann würde es zu einem neuen Prozess kommen.